Die wesentlichen Aspekte des Buddha-Dhamma für die Meditationspraxis

von Sayagyi U Ba Khin

U Ba Khin verfasste die folgende Rede auf Englisch hauptsächlich für seine Schüler aus dem Westen. Er hielt sie vor seinen Schülern bei einer Vielzahl von Gelegenheiten. Nach seinem Tod wurde die Rede nach einem Mitschnitt transkribiert und unter dem obigen Titel veröffentlicht.

In der Lehre des Buddha sind anicca, dukkha und anattā - Unbeständigkeit, Leiden und Ichlosigkeit -  die drei wesentlichen Charakteristika aller Dinge. Wenn man anicca richtig versteht, versteht man dukkha als logische Konsequenz daraus und anattā als letztendliche Wahrheit. Es erfordert einige Zeit, den Zusammenhang dieser drei Charakteristika zu verstehen.

Unbeständigkeit (anicca) ist natürlich die grundlegende Tatsache, die als erstes durch die Praxis erfahren und verstanden werden muss. Bloße Kenntnis der Buddha-Lehre aus Büchern reicht nicht aus für das richtige Verständnis von anicca, weil die eigene Erfahrung fehlt. Nur durch das eigene Erfahren des Wesens von anicca als einem sich ständig verändernden Prozess in uns selbst kann man anicca so verstehen, wie der Buddha es uns nahelegen würde. Wie zu Buddhas Zeiten kann auch heute dieses Verständnis von anicca von Menschen ohne jegliches Buchwissen über den Buddhismus entwickelt werden.

Um die Unbeständigkeit (anicca) zu verstehen, muss man den Edlen Achtfachen Pfad genau und mit großem Fleiß befolgen, der in die drei Gruppen sīla, samādhi und paññā unterteilt ist, nämlich moralisches Verhalten, Konzentration und Weisheit. Sīla (tugendhaftes Verhalten) ist die Basis für samādhi (Kontrolle des Geistes, geistige Konzentration). Nur wenn samādhi gut ausgebildet ist, kann man paññā entwickeln. Mit paññā (Weisheit) ist das Verständnis von anicca, dukkha und anattā durch die Praxis von Vipassana, d.h. nach innen gerichteter Meditation gemeint.

Unabhängig davon, ob ein Buddha erschienen ist oder nicht, sind sīla und samādhi in der menschlichen Welt sicherlich vorhanden. In der Tat sind sie der gemeinsame Nenner aller Religionen. Sie sind aber keine ausreichenden Werkzeuge, um das Ziel des Buddhismus – das vollständige Ende jeglichen Leidens – zu erreichen. Bei seiner Suche nach dem Ende allen Leidens fand das Prinz Siddhārtha, der zukünftige Buddha, heraus und arbeitete angestrengt um den Weg zu finden, der zum Ende allen Leidens führen würde. Nach sechs Jahren beharrlicher Arbeit entdeckte er diesen Weg, wurde vollständig erleuchtet und lehrte dann Menschen und Götter den Weg zu verfolgen, der sie zum Ende allen Leidens führen würde.

In diesem Zusammenhang sollten wir verstehen, dass jedes Handeln – ob es sich als Tat, Gedanke oder als Wort äußert – eine aktive Kraft hinterlässt, die saṅkhāra (oder auch kamma, mit einem volkstümlichen Begriff) genannt wird und die auf dem Konto des Individuums als Plus oder Minus verbucht wird, je nachdem, ob das Handeln gut oder schlecht ist. Es gibt daher bei jedem eine Ansammlung von saṅkhāras (oder kamma), die sozusagen als Energienachschubbasis dafür dient, das Leben aufrechtzuerhalten, dem jedoch unvermeidlich Leiden und Tod folgen. Durch die Entwicklung der Kraft, die dem Verständnis von anicca, dukkha und anattā innewohnt, ist man in der Lage, sich von den saṅkhāras, die sich auf dem eigenen Konto angesammelt haben, zu befreien.

Dieser Prozess beginnt mit dem richtigen Verständnis von anicca, während weitere Ansammlungen von neuen Handlungen und die Reduktion des Energienachschubs, um Leben zu erhalten, gleichzeitig stattfinden, von Augenblick zu Augenblick, von Tag zu Tag. Es dauert daher ein ganzes Leben oder auch länger, sich von allen saṅkhāras zu befreien. Derjenige, der sich von allen saṅkhāras befreit hat, hat das Ende allen Leidens erreicht, denn dann bleibt kein saṅkhāra mehr übrig, das die Energie liefern könnte, um ihn in irgendeiner Form von Leben zu erhalten. Mit der Beendigung ihres Lebens gehen die vollendeten Heiligen - die Buddhas oder arahants - über ins parinibbāna und erreichen so das Ende jeglichen Leidens. Für uns heute, die wir mit der Vipassana-Meditation beginnen, wäre es ausreichend, wenn wir anicca so gut verstehen, dass wir die erste Stufe eines ariya (eines edlen Menschen) erreichen, das heißt, ein sotāpanna werden. Ein sotāpanna ist jemand, der in den Strom der Befreiung eingetreten ist, und der nicht mehr als sieben Leben brauchen wird, um zum Ende des Leidens zu gelangen.

Der Tatsache von anicca, die die Tür zum Verständnis von dukkha und anattā und schließlich zum Ende des Leidens öffnet, kann in ihrer vollen Bedeutung nur durch die Lehre eines Buddha erfahren werden, und zwar so lange wie diese Lehre in ihrem Bezug zum Edlen Achtfachen Pfad und den siebenunddreißig Faktoren der Erleuchtung (bodhipakkhiya dhammā) rein erhalten und dem Schüler zugänglich bleibt.

Um Fortschritte in der Vipassana-Meditation zu machen, muss der Schüler anicca so kontinuierlich wie möglich erfahren. Der Rat des Buddha an die Mönche lautet, das Bewusstsein von anicca, dukkha und anattā in allen Haltungen aufrechtzuerhalten, gleichgültig ob sie sitzen, stehen, gehen oder sich hinlegen. Fortwährendes Bewusstsein von anicca und dadurch auch von dukkha und anattā ist das Geheimnis des Erfolgs. Die letzten Worte des Buddha, kurz vor seinem letzten Atemzug und bevor er ins mahāparinibbāna einging, waren: „Unbeständigkeit und Verfall (oder anicca) wohnen jedem einzelnen Dinge inne. Arbeitet mit Fleiß an eurer Rettung.“ Dies ist in der Tat die Essenz aller seiner Lehren während seiner fünfundvierzigjährigen  Lehrtätigkeit. Wenn Sie das Bewusstsein der Vergänglichkeit (anicca), die jedem einzelnen Ding innewohnt, aufrechterhalten, werden Sie im Lauf der Zeit mit Sicherheit das Ziel erreichen.

So wie Sie Ihr Verständnis von anicca vertiefen, so wird Ihr Verständnis der wahren Natur der Dinge immer größer werden, so dass schließlich überhaupt keine Unklarheit mehr hinsichtlich der drei Charakteristika  anicca, dukkha und anattā besteht. Erst dann werden Sie in der Lage sein, weiter auf das angestrebte Ziel zuzugehen. Da Sie jetzt anicca als den ersten wesentlichen Faktor kennen, sollten Sie versuchen, mit wirklicher Klarheit, und zwar so umfassend wie möglich, zu verstehen, was annica ist, damit Sie weder in der Praxis noch in Diskussionen verwirrt werden können.

Die Kenntnis der Kalāpas
In Wahrheit bedeutet anicca, dass Unbeständigkeit oder Verfall von Natur aus allem innewohnt, was im Universum existiert, ob es belebt oder unbelebt ist. Buddha lehrte seine Schüler, dass alles, was auf der materiellen Ebene existiert, aus kalāpas zusammengesetzt ist. Kalāpas sind Materie-Einheiten, die sehr viel kleiner als Atome sind und die, kaum sind sie entstanden, wieder vergehen. Jedes kalāpa ist eine Masseneinheit, die aus acht Grundbestandteilen von Materie besteht: Festigkeit, Flüssigkeit, Wärme und Schwingung zusammen mit Farbe, Geruch, Geschmack und Nährstoff. Die ersten vier werden Primärqualitäten genannt und herrschen in einem kalāpa vor. Die anderen vier sind untergeordnet und hängen von den erstgenannten vier ab, bzw. entstehen aus ihnen. Ein kalāpa ist das kleinste physikalische Partikel – noch jenseits des Horizonts moderner Wissenschaft.

Nur wenn die acht Grundbestandteile der Materie sich verbinden, entsteht ein kalāpa. Mit anderen Worten: Die kurzfristige Verbindung dieser acht eigenschaftskonstituierenden Grundelemente, die nur einen Augenblick lang eine Masse bilden, wird im Buddhismus als kalāpa bezeichnet. Die Lebensdauer eines kalāpa wird als „ein Augenblick“ bezeichnet und eine Billion solcher Momente sollen vergehen, während derer ein Mensch einmal mit den Augen blinzelt. Diese kalāpas sind alle in einem Zustand fortwährender Veränderung oder ständigen Flusses. Ein fortgeschrittener Vipassana-Schüler kann sie als Energiestrom spüren.

Der menschliche Körper ist keine feste, stabile Einheit, wie es vielleicht erscheinen mag, sondern ein Kontinuum von Materie (rūpa) in Koexistenz mit geistigen Prozessen (nāma). Das Wissen um die Tatsache, dass unser Körper aus winzigen kalāpas besteht, die sich in ständiger Veränderung befinden, bedeutet dann,  die wahre Natur der Veränderung und des Verfalls zu verstehen. Diese Veränderung oder dieser Verfall (anicca), durch das fortgesetzte Zusammenbrechen und Neukonstituieren von kalāpas verursacht und in einem Zustand allgemeinen Verbrennens, muss notwendigerweise als dukkha angesehen werden, als die Wahrheit des Leidens. Nur dann, wenn Sie die Unbeständigkeit (anicca) als Leiden (dukkha) erfahren, werden  Sie die Wahrheit des Leidens erkennen, die erste der Vier Edlen Wahrheiten, die der Lehre des Buddha zugrunde liegen.

Warum? Weil Sie dann, wenn Sie die subtile Natur von dukkha erkennnen, der Sie keinen Augenblick entkommen können, weil Sie dann also Ihrer bloßen Existenz als Geist-Materie (nāma-rūpa) mit Angst, Abscheu und Abneigung gegenüberstehen und einen Ausweg suchen, jenseits von dukkha, also nibbāna suchen, das Ende des Leidens. Wie das Ende des Leidens beschaffen ist, werden Sie sogar als menschliches Wesen erleben können, wenn Sie das Stadium eines sotāpanna – eines Menschen, der in den Strom der Befreiung eingetreten ist – erreichen und sich durch die Praxis weit genug entwickelt haben, um den uneingeschränkten Zustand inneren Friedens – nibbāna – zu erreichen. Aber sogar im täglichen, normalen Leben werden Sie, sobald Sie das Bewusstsein von anicca in der Praxis aufrechterhalten  können, selbst feststellen, dass sich eine Veränderung zum Besseren in Ihnen vollzieht, auf der körperlichen wie auf der geistigen Ebene.

Bevor ein Schüler mit der Vipassana-Meditation beginnt, (d. h. nachdem samādhi bis zu einem notwendigen Niveau entwickelt wurde), sollte er sich mit dem theoretischen Wissen über materielle und geistige Eigenschaften (d.h. von nāma und rūpa) vertraut machen. Denn in der Vipassana-Meditation betrachtet man nicht nur die veränderliche Natur der Materie, sondern auch die veränderliche Natur des Geistes, der gedanklichen Elemente der Aufmerksamkeit, die sich auf den Prozess der Veränderung innerhalb der Materie richtet. Manchmal ist die Aufmerksamkeit auf die Unbeständigkeit der materiellen Seite der Existenz (d.h. auf anicca in Bezug auf rūpa) konzentriert, dann wieder auf die Unbeständigkeit der gedanklichen oder der geistigen Seite der Existenz (d.h. auf anicca in Bezug auf nāma). Wenn man die Unbeständigkeit der Materie betrachtet, erkennt man auch, dass die Gedanken, deren man sich gleichzeitig bewusst ist, ebenfalls vorübergehend sind und sich ständig verändern. Dann wird man anicca gleichzeitig in Bezug auf rūpa und auf nāma erfahren.

Alles, was ich bisher gesagt habe, bezieht sich auf das Verständnis von anicca durch das körperliche Wahrnehmen des Veränderungsprozesses der Materie (rūpa) und der gedanklichen Elemente, die von solchen sich verändernden Prozessen abhängen. Sie sollten aber wissen, dass anicca auch durch andere Arten von Empfindungen verstanden werden kann, und zwar:

1. durch Kontakt mit einer sichtbaren Form durch das Sinnesorgan des Auges,
2. durch Kontakt mit einem Geräusch durch das Sinnesorgan des Ohres,
3. durch Kontakt mit einem Geruch durch das Sinnesorgan der Nase,
4. durch Kontakt mit einem Geschmack durch das Sinnesorgan der Zunge,
5. durch Kontakt mit einer Berührung durch das Sinnesorgan des Körpers
6. und durch Kontakt mit geistigen Objekten durch das Sinnesorgan des Geistes.

Man kann also das Verständnis von anicca durch jedes der sechs Sinnesorgane entwickeln. Durch unsere Praxis haben wir jedoch herausgefunden, dass von allen Arten von Empfindungen dasjenige Gefühl, das durch gegenseitige Berührung einzelner Teile des Körpers in einem Veränderungsprozess entsteht, am umfassendsten den Bereich für nach innen gerichtete Meditation abdeckt. Darüber hinaus ist das Gefühl, das durch Berührungskontakt mit den einzelnen Teilen des Körpers hervorgerufen wird (durch Reibung, Strahlung und Vibration innerhalb der kalapas),  deutlicher wahrnehmbar als andere Arten von Empfindungen. Daher kann ein Anfänger in der Vipassana-Meditation durch das körperliche Empfinden der Veränderung der Materie (rūpa) leichter das Verständnis von anicca erreichen. Das ist der Hauptgrund, warum wir körperliche Empfindungen als ein Mittel für das schnelle Verständnis von anicca gewählt haben. Es ist jedermann überlassen, andere Wege auszuprobieren, aber ich schlage vor, dass man erst ein klares Verständnis von anicca durch körperliche Empfindungen entwickelt haben sollte, bevor man Versuche mit anderen Arten von Empfindungen macht.

Die Stufen des Wissens

Es gibt zehn Stufen des Wissens in Vipassana, nämlich:

1. sammasana: das theoretische Verständnis von anicca, dukkha und anattā durch genaue Beobachtung und Analyse;
2. udayabbaya: das Wissen um Entstehen und Auflösung von rūpa und nāma durch unmittelbares Beobachten;
3. bhaṅga: die Kenntnis von der sich rasch verändernden Natur von rūpa und nāma als eines schnell fließenden Energieflusses, insbesondere ein klares Bewusstsein der Phase der Auflösung;
4. bhaya: die Erkenntnis, dass genau diese Existenz fürchterlich ist;
5. ādīnava: die Erkenntnis, dass genau diese Existenz voller Übel ist;
6. nibbidā: die Erkenntnis, dass besagte Existenz widerwärtig ist;
7. muñcitakamyatā: das Wissen um die dringende Notwendigkeit und den Wunsch, aus dieser  Existenz zu fliehen;
8. paṭisaṅkhā: das Wissen, dass die Zeit gekommen ist, an der völligen Verwirklichung der Erlösung zu arbeiten, und zwar mit anicca als Basis;
9. sankhārupekkhā: das Wissen, dass jetzt alle Voraussetzungen gegeben sind, sich von jeglichen konditionierten Phänomenen (saṅkhāra) zu lösen und sich von der Ichbezogenheit zu befreien;
10. anuloma: das Wissen, das den Versuch beschleunigen wird, das Ziel zu erreichen.

Dies sind die Stufen, die man im Verlauf der Vipassana-Meditation durchlebt. Diejenigen, die das Ziel in kurzer Zeit erreichen, kann man allerdings nur im Nachhinein erkennen. Zusammen mit dem Fortschritt, den man mit dem Verständnis von anicca macht, kann man diese Stufen erreichen, allerdings ist dabei die Hilfestellung durch einen kompetenten Lehrer nötig. Man sollte vermeiden, das Erreichen dieser Stufen wünschend vorwegzunehmen, da dies natürlich von der kontinuierlichen Bewusstheit von anicca ablenkt – und diese allein kann die erwünschte Belohnung bringen. 

Die Erfahrung von Anicca im täglichen Leben
Ich möchte jetzt die Vipassana-Meditation im Hinblick auf die Situation eines Menschen erläutern, der im alltäglichen Leben steht, und darlegen, welchen Nutzen man davon hier und jetzt in diesem Leben hat.

Das erste Ziel der Vipassana-Meditation besteht darin, die Erfahrung von anicca in uns selbst zu aktivieren und nach und nach einen Zustand von innerer und äußerer Ruhe und Ausgeglichenheit zu erreichen. Dies ist dann der Fall, wenn man in der inneren Erfahrung von anicca ganz aufgeht. Die Welt ist derzeit mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert, die die ganze Menschheit bedrohen. Dies ist genau der richtige Zeitpunkt für jedermann, sich der Vipassana-Meditation zuzuwenden und zu lernen, wie man inmitten all dessen, was heute geschieht, einen tiefen Quell der Ruhe finden kann. Anicca ist im Innern jedes Menschen. Es ist in Reichweite eines jeden. Man braucht nur einen Blick nach innen zu werfen - und anicca ist erfahrbar. Wenn man anicca fühlen kann, wenn man anicca erfahren kann und wenn man sich ganz auf  anicca einlassen kann, dann ist man in der Lage, sich bewusst von der äußeren Erscheinungswelt zu lösen. Für Menschen  in ihrem normalen Alltag  ist anicca das Kleinod ihres Lebens, das sie unendlich hüten, um sich ein Reservoir an ruhiger und ausgeglichener Energie zu schaffen, für ihr eigenes Wohlbefinden und für das Wohl der Gesellschaft.

Wenn die Erfahrung von anicca ausreichend und in der richtigen Weise entwickelt ist, dann greift das die Wurzeln unserer körperlichen und geistigen Übel an, und was immer Negatives in uns vorhanden sein mag, wird nach und nach entfernt, nämlich die Ursachen dieser körperlichen und geistigen Übel. Diese Erfahrung ist nicht allein denjenigen Menschen vorbehalten, die der Welt entsagt haben, um ein Leben als Mönch oder Nonne zu leben - sie kann gleichermaßen von Menschen erlebt werden, die ein normales Leben in der Gesellschaft führen. Trotz der Nachteile, die sich aus dem unruhigen gesellschaftlichen Leben heutzutage ergeben, kann ein kompetenter Lehrer einem Schüler in einer vergleichsweise kurzen Zeit ermöglichen, die Erfahrung von anicca zu machen. Ist sie einmal gemacht worden, so ist es nur noch notwendig, sie möglichst auch aufrechtzuerhalten. Aber es muss entschieden darauf hingearbeitet werden, sobald sich Zeit oder Gelegenheit zu weiteren Fortschritten bietet, das Stadium von bhaṅgañāṇa (die Kenntnis von bhaṅga) zu erreichen.

Für diejenigen, die das Stadium von bhaṅga noch nicht erreicht haben, werden sich wahrscheinlich jedoch einige Schwierigkeiten einstellen. Es wird für sie wie ein Tauziehen sein zwischen anicca im Inneren und den äußeren körperlichen und geistigen Aktivitäten. Daher wäre es weise für sie, dem Motto zu folgen: “Arbeite, wenn du arbeitest, und spiele, wenn du spielst”. Es ist nicht notwendig, immer und überall die Erfahrung von anicca in sich präsent zu halten. Es sollte genügen, wenn dies auf eine feste Zeit oder verschiedene feste Zeiten beschränkt bleibt, die dafür während des Tages oder in der Nacht freigehalten werden. Zumindest während dieser Zeit muss der Versuch gemacht werden, die Aufmerksamkeit innerhalb des Körpers zu konzentrieren und dabei das Bewusstsein ausschließlich auf anicca zu richten. Das heißt, man sollte seine Achtsamkeit auf anicca von Augenblick zu Augenblick kontinuierlich aufrechterhalten, sodass keine umherschweifenden oder ablenkenden Gedanken die Möglichkeit haben, sich dazwischen zu drängen, was zweifellos hinderlich für den weiteren Fortschritt wäre. Falls dies nicht möglich sein sollte, muss man sich wieder ganz auf die Atmung konzentrieren, denn samādhi ist der Schlüssel zur achtsamen Beobachtung von anicca. Um gutes samādhi zu entwickeln, muss sīla (moralisches Verhalten) vollkommen sein, denn samādhi ist von  sīla abhängig. Für eine gute Erfahrung von anicca muss samādhi gut sein. Wenn samādhi ausgezeichnet ist, wird das Gewahrsein von anicca ebenfalls ausgezeichnet sein.

Es gibt keine andere spezielle Technik die Erfahrung von anicca auszulösen, als mit einem vollkommen ausgeglichenen Geist seine Achtsamkeit auf das Objekt der Meditation zu richten. In der Vipassana-Meditation ist anicca das Objekt der Meditation, und diejenigen, die gewohnt sind, ihre Aufmerksamkeit auf körperliche Empfindungen zu richten, können anicca auf diese Weise direkt erfahren. Was das Erfahren von anicca im Körper betrifft, so sollte man zunächst in dem Bereich beginnen, wo man seine Aufmerksamkeit ohne Mühe beibehalten und vertiefen kann, um dann das Gebiet der Aufmerksamkeit zu wechseln, von einer Stelle zur anderen  , vom Kopf zu den Füßen, von den Füßen zum Kopf, wobei man von Zeit zu Zeit auch nach innen schauen kann. In diesem Stadium kommt es entscheidend darauf an, der Anatomie des Körpers keinerlei Beachtung zu schenken  , sondern die Aufmerksamkeit ganz den strukturellen Bausteinen der Materie - den kalāpas - und der Art ihrer ständigen Veränderung zu widmen.

Wenn diese Anweisungen beachtet werden, dann werden sich mit Sicherheit Fortschritte zeigen, was jedoch ebenso abhängt von den pāramī (d.h. von den eigenen Anlagen für bestimmte spirituelle Qualitäten) wie von der Hingabe des Einzelnen an die Arbeit der Meditation. Wer hohe Stufen der Weisheit erreicht, dessen Kraft und Tiefe des Verstehens der drei Grundeigenschaften anicca, dukkha und anattā wird zunehmen. Insofern wird man dem Ziel, ein ariya oder edler, vollkommener, heiliger Mensch zu werden, näher und näher kommen - einem Ziel, das jeder im gewöhnlichen Alltag stehender Mensch im Auge behalten sollte.

Wir leben im Zeitalter der Wissenschaft. Die Menschen von heute geben sich nicht mit Utopien ab. Nur wenn die Ergebnisse gut und nutzbringend, konkret, klar ersichtlich, persönlich und im Hier und Jetzt erfahrbar sind, werden Dinge akzeptiert.

Als der Buddha noch lebte, sagte er zu den Menschen von Kāḷāma:
„Nun gebt acht, Kāḷāmas. Lasst euch nicht irreführen durch Berichte, traditionelle Bräuche oder Hörensagen. Lasst euch nicht irreführen durch das beeindruckende Wissen der alten Schriften oder durch Argumentationen und Logik oder durch das Reflektieren und das Billigen irgendeiner Theorie oder weil eine Sichtweise sich mit den eigenen persönlichen Neigungen deckt oder aus Respekt vor der Autorität eines Lehrers. Wenn ihr jedoch aus eigener Erfahrung wisst: Diese Dinge sind schädlich, diese Dinge sind zu tadeln, diese Dinge sind von den Weisen verworfen worden, diese Dinge, praktiziert und befolgt, brachten nur Schaden und Kummer - dann weist sie zurück. Wann immer ihr aber aus eigenem Wissen heraus sagen könnt: Diese Dinge sind heilsam, diese Dinge sind untadelig, diese Dinge werden von den Intelligenten gepriesen, diese Dinge, praktiziert und befolgt, führten zu Wohlergehen und Glück, dann, Kalāmas, haltet an diesen Dingen, die ihr in der Praxis erprobt habt, fest.”

Die Zeit für Vipassana ist jetzt gekommen - das heißt, für die Wiederbelebung der Praxis von Dhamma, von Vipassana. Wir haben nicht den geringsten Zweifel daran, dass diejenigen, die mit unvoreingenommenem, offenem Geist einen Kurs unter der Leitung eines kompetenten Lehrers besuchen und ernsthaft arbeiten, eindeutige Ergebnisse erzielen werden - damit meine ich Ergebnisse, die als positiv akzeptiert werden, die konkret, augenfällig, persönlich und hier und jetzt erfahrbar sind, Ergebnisse, die ihnen für den Rest ihres Lebens von großem Nutzen sein werden, ihnen Wohlergehen und Glück sichern.

Mögen alle Wesen glücklich sein und möge überall in der Welt Frieden herrschen.